Schnittstelle zwischen Orient und Okzident

Text und Fotos: Stephan Käufer
über Marseille thronend

über Marseille thronend

Nachdenklich sind die beiden Männer in ein Gespräch vertieft. Während der Eine, der mit der Krawatte, zwischen den Fingern lässig mit seiner Sonnenbrille spielt, lauscht der Andere interessiert seinen Worten. Die ineinander verschlungenen Hände zeigen seine Anspannung. Ihre Mützen sind schön, sie erinnern an die ostafrikanischen Omani Mützen. Doch anders als bei diesen, ist ihre Grundfarbe ein blasses Gelb. Die kostbaren herz- oder rankenförmig verschlungenen Stickereien sind aus silbrig weißem Garn. Der mit der Sonnebrille trägt zur Krawatte einen Anzug westlichen Schnittes und ein dunkelblaues Hemd. Der Älter erscheinende, kleidet sich in einen einer Galabija, dem traditionellen Gewand ägyptischer Männer ähnlichen, weißen Kaftan mit rosafarbenen Stickereien. Die Kleidung und das Kombinieren der landestypischen und der modischen Stilelemente, ihr reden, zuhören, das Ringen der Hände, das Spiel mit der Sonnenbrille, versinnbildlicht hier im arabischen Viertel von Marseille, der Schnittstelle der Kulturen, ihr verschmelzen und ihr mit- und nebeneinander.

Schnittstelle der Kulturen

Schnittstelle der Kulturen

Um die beiden Afrikaner pulsiert das Leben, fast ausschließlich Männer jeden Alters, treffen sich allabendlich auf dem Markt um miteinander zu schwatzen, einen Minztee zu trinken und Freundschaften zu pflegen. Männergesellschaft. Die Frauen auf dem Platz kann man an den Fingern einer Hand abzählen.

Marseille, Mittelmeerhafen, zweitgrößte französische Stadt, hohe Arbeitslosigkeit, Gettoisierung, Bandenunwesen und Internationale Kriminalität, Schlagwörter die die gängigen Klischees über die Stadt bedienen. Will man den Statistiken glauben schenken, ist Frankfurt am Main die Stadt mit der höchsten Kriminalitätsrate in Deutschland. Es soll die Fakten nicht verwässern, mag aber nachdenklich stimmen.
Im Department Var im Süden Frankreichs, ist Marseille nicht nur Schnittstelle zwischen Europa und Afrika, sondern auch zwischen der Cote d`Azur und der Provence. Die romantischen Buchten der Calanques, die Strände von La Ciotat, Bandol und Sanary sur Mer lassen sich von hier aus genau so gut erreichen wie die Camarque oder die einsamen Berge des Luberon.

Mittelmeerhafen

Mittelmeerhafen

„Es ist ein Klischee, das Marseille gefährlich sein soll, es stimmt aber nicht“, erklärt Anne Chabot. Anfang dreißig, gehört die sympathische Französin zu den „greeters marseille provence“. Die „Greeters“ sind ein Zusammenschluss von ehrenamtlich arbeitenden, nicht professionellen Stadtführern. Etwa 2,5 Stunden dauern die kostenlosen Führungen zu den geheimsten Plätzen oder den angesagtesten Orten ihrer Heimatstädte. Die „Greeters“ vermitteln einen etwas anderen Blick auf „ihr“ Viertel „ihre“ Stadt, in dem historische oder kulturelle Aspekte aus persönlichem Blickwinkel gesehen werden. Marseille ist Anne`s Heimatstadt und gerne zeigt sie den Touristen das arabische Viertel. Für Sie ist es das wahre Marseille. Ein paar Jahre, während ihres Studiums, war Anne in Paris. „In Marseille leben die Menschen friedlicher zusammen als in der Hauptstadt“, resümiert sie. Um erklärend anzufügen: „Der Unterschied zwischen Arm und Reich, den sozialen Klassen, ist hier nicht so ausgeprägt, fließender“. Weintrauben, Pfirsiche, Äpfel oder Orangen stapeln sich auf den Tischen des Obsthändlers.

Äpfel und Orangen

Äpfel und Orangen

Vom Nachbarstand wabert der Geruch der gebratenen Brathähnchen herüber. Oliven, eingelegt in Soßen, Öle, oder Marinaden, Chili, Knoblauch ein Mischmasch an Farben und Gerüchen. Dazwischen ein Händler, der stapelweise Wasserflaschen feilbietet. Leere Obstkisten und Unrat verstreut in ungenutzten Ecken. Fassaden an denen der Putz bröckelt. Menschen wuseln durch enge Gassen, diskutieren gestenreich, Straßenlärm, verführerischer Duft exotischer Gewürze und der Gestank der Gasse. Im Hintergrund das Knattern eines Motorrollers. Leben, handeln, prosperieren, Kindergeschrei, gewinnen und verlieren, vielleicht auch Taschendiebe, eine Polizeistreife. Um die Ecke wird es ruhiger. Ein paar Stühle und Tische, Tee wird serviert. Neugierige Blicke, abschätzende Blicke, dunkle Männeraugen, tuscheln. Ein Lächeln, freundliches Grinsen, strahlende Augen, offenes Miteinander, ein willkommen! Ist es wie in jeder anderen Großstadt? Nein! Fast so. Auch wenn es anders scheinen mag, es ist noch immer das 21. Jahrhundert, noch immer Europa, noch immer Frankreich. Marseille hat etwas Eigenes, etwas, das es von den zwar sauberen aber blutleeren Städten unterscheidet. Marseille atmet, hustet, duftet und riecht, oder sollte man besser sagen „stink“, aber es lebt. Vor allem. Deshalb ragt es heraus, hat etwas Besonderes, Anziehendes, Anmutiges, Schönes. Marseille ist ein Stück Ewigkeit, jung und alt zugleich.

Der Graf von Monte Christo

Der Graf von Monte Christo

Das Schiff, die „Edmond Dantes“ hat an der Insel abgelegt. Ein weiteres Mal hat es Touristen zur Insel in der Bucht vor Marseille gebracht, und andere abgeholt. Dies ist das andere Marseille, jenes aus den Reiseführern und den bunt gedruckten Katalogen. Nicht besser nicht schlechter, es ist nicht weniger spannend, nicht weniger erholsam es ist das „Andere“. Auf der Insel vor Marseille stehen die Gebäude des Château d´ If . Jenes Gefängnisses dem Alexandre Dumas mit seinem Roman „Der Graf von Monte Christo“ zu Weltruhm verhalf. Edmond Dantes, der Graf war zwar nie auf der Insel eingekerkert aber die Fahrt zur Insel gerade bei sonnigem Wetter ist entspannend. Von der Insel aus bietet sich ein prächtiges Panorama auf Stadt und Hafen. Man wird der vielen Baukräne gewahr, die dabei sind, die Stadt in ihrem optischen Auftreten zu verändern. In einem ehrgeizigen Bauprogramm bereitet sich Marseille auf das Jahr 2013 vor, wenn die Stadt sich mit dem Titel „Kulturhauptstadt Europas“ schmücken darf. Beim Einlaufen in den Hafen gleitet die Edmond Dantes vorbei am Palais Pharo, am Fort Saint Jean oder an der Kathedrale „Nouvelle Major“.

Nouvelle Major

Nouvelle Major

Nouvelle Major, weiteres Symbol einer Stadt die reich ist an Metaphern. Errichtet im romanisch – byzantinischen Stil, sollte sie Seefahrern aus dem Orient schon von Weitem signalisieren, dass hier christlicher Boden betreten wird. Das massige, durch Rundbögen gedrungene aber mächtig und stark erscheinende Bauwerk, mag diesen Zweck erfüllt haben. Doch erinnert seine Architektur, seine kuppelartige Bauweise auch an jene Zeit, als arabische Gelehrte, maurische Fürsten und europäische Kauffahrer in friedlichem Miteinander, bedeutende Kulturleistungen in Medizin, Architektur, Mathematik und Philosophie schufen. Auch damals werden Männer in Mützen, Turbanen und mit Hüten, mit Pluderhosen, wallenden Kaftanen, eng anliegenden Wämsern, Westen und Spitzenkragen beieinandergestanden haben, erklärend, zuhörend, im Dialog begriffen umringt von pulsierendem Leben.


43.294738,5.374477
Marseille, Frankreich

Okzitanien - Katharerland
Okzitanien - Katharerland

Reise in den Südwesten Frankreichs

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